Das Blumenmädchen II (Text), Emre Baykus

 

Ich spüre, wie ich untergehe. Ich stolpere und falle zu Boden, meine Füße schmerzen vom  Laufen und mein Körper schmerzt vom Fallen, vom Stolpern zu Boden, von den Steinen, die meine Haut durchdringen, als ich auf den Dreck rolle. Ich versuche, mich hochzuziehen; ich kann nicht.

 

Das Adrenalin beginnt nachzulassen, ich spüre meinen verdrehten Knöchel, auf dem ich die letzten paar Minuten gestanden habe. Ich kann nicht mehr gehen, ich kann nicht mehr rennen. Also krieche ich zum nächsten Baum und setze mich. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen den Baum, bis ich einen stechenden, dann fließenden Schmerz verspüre.

 

Meine zitternde Hand wandert zu meinem Rücken und berührt ihn. Meine Flüssigkeit, mein Blut. Ich kann meinen Rücken nicht sehen, aber ich spüre Wunden. Wunden, die sich in mein Fleisch brennen. Die Luft, die Sonne, der Baum, der Schweiß, die Kleidung, alles brennt in meinem Rücken, in meinen Wunden. Ich bewege meine Hand, um meine Augen zu ertasten, eine blutüberströmte Hand begegnet ihnen.

 

Ein schwaches Lachen verlässt meinen Mund, geht es so mit mir zuende? Wie ein Feigling davonlaufen und an Blutverlust sterben?

 

Ich wische das Blut von meiner Hand. Ich schaue mein Kleid an, es war vor einer Minute noch so schön und so sauber. Oder vor einer Stunde? Ich weiß es nicht mehr. Mein Kopf fühlt sich wackelig an.

 

Als ich nach oben schaue, kann ich den Himmel nicht sehen, die Baumkrone versperrt den Blick. Es spielt keine Rolle. Ich schätze, nur Menschen, die ein Ziel hatten, erleben einen denkwürdigen Tod. Oder sogar ein unvergessliches Leben.

 

Ich versuche, mich an alles Schöne, Warme, Denkwürdige aus meinem Leben zu erinnern. Mein Kopf ist leer. Vielleicht liegt es daran, dass das Blut nicht mehr in mein Gehirn gelangt, vielleicht liegt es auch daran, dass ich einfach nie etwas Erinnernswertes getan habe. Ich habe nie etwas getan, um mein Leben wichtig zu machen.

 

Und jetzt werde ich sterben.

 

Ich lache wieder. Es ist irgendwie lustig, nicht wahr? Dieser Ort war so still, jetzt ist er voll mit meinem Gelächter. Dann mit meinem Schluchzen. Ich habe wirklich alles völlig vermasselt, oder?

 

Als ich am Baum sitze und mein Leben vor meinen Augen vorbeiziehen lasse, überkommt mich plötzlich eine seltsame Ruhe. Der Schmerz in meinem Rücken lässt nach und wird durch ein taubes Gefühl ersetzt, das sich im ganzen Körper ausbreitete. Die Realität meines bevorstehenden Todes wird mit jedem Augenblick klarer. Ich kann nicht anders, als über die Entscheidungen nachzudenken, die ich getroffen habe, über die Chancen, die ich verpasst habe, und über das Bedauern, das mich jetzt überwältigt.

 

Ich denke an die Träume, die ich einst hatte, an die Sehnsüchte, die in mir flackerten wie eine Flamme, die darauf wartete, entzündet zu werden. Ich hatte zugelassen, dass Angst und Selbstzweifel mich zurückhalten und mich in den Grenzen eines gewöhnlichen Lebens gefangen hielten. Ich bin nie Risiken eingegangen, habe nie meine Leidenschaften mit unerschütterlicher Entschlossenheit verfolgt. Jetzt, als ich dem Ende entgegen sehe, wird mir bewusst, wie tief meine Selbstzufriedenheit gewesen war.

 

Dann bemerke ich etwas, ein paar Schritte entfernt, ein Sack. Es hatten offenbar noch mehr Menschen versucht zu fliehen und jemand hat seine Tasche fallen lassen. Ich krieche darauf und versuche, danach zu greifen.

 

Ich hoffe, da ist etwas drin, etwas Nützliches, etwas Sinnvolles, etwas, das nicht so ist wie ich, das einfach verkümmert.

 

Ich nehme die Tasche und lehne mich an eine Wand. Ich öffne den Beutel. Er enthält Samen. Nur Samen. Ich weiß, was es für Samen sind. Es sind Samen für Blumen, dieselben Blumen, die ich in meinem Garten hatte. Meine Atmung wird flach, mein schwacher Herzschlag füllt meine Ohren und mein Kopf dreht sich. Mein Kleid ist voller Schmutz und Blut. Ich würde früh genug tot sein.

 

Aber zumindest könnte mein Tod etwas bewirken.

 

Ich schlucke die Samen Sie kratzen in meiner Kehle, hindern mich am Atmen und lassen meinen Kopf schmerzen. Alles dreht sich, ich fühle mich schwach. Mein Körper sackt gegen die Wand und mein Kopf blickt nach oben.

 

Der Himmel ist klar. Ein neuer Tag hat begonnen.

 

 

 

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